Managing
Tim E. Travel und seine Reise ans Börsenfernsehen
Mein Name ist Tim E. Travel und heute mache ich mich auf eine kleine Reise, eine Reise durch Raum und Zeit ins Jahr 1961. Ich befinde mich vor den Toren der Börse in der pulsierenden und geschäftigen Stadt Zürich. Man sagte mir, dass die Börse dank der Firma Telekurs AG einen technisch innovativen und revolutionären Schritt Richtung Zukunft getan hat. Um was es sich hierbei genau handelt, gilt es für mich herauszufinden.
Recherche und Text von Vera Leuenberger, Gizem Topcuoglu, Mathias Wey
In der opulenten Eingangshalle, welche zwar schlicht, aber dennoch charakteristisch ausgestattet ist, werde ich von Frau Locher freundlich in Empfang genommen. Sie geleitet mich durch die Halle zu einem langen Tresen aus Mahagoni, an dessen Enden rechts und links sich jeweils eine Tür befindet. Währenddessen kann ich meinen Blick nicht von Antonio Augusto Giacomettis überwältigenden Gemälde, welches die Wand der Börse schmückt, nehmen. Es zieht mich regelrecht in seinen Bann. Ich stosse dabei fast an den Tresen, wache auf und versuche, meine Faszination etwas zurückzuhalten. Nun folge ich manierlich Frau Locher, die die rechte Tür öffnet, lächelt und sagt: «Nach Ihnen.» Ich trete ein, in einen langen und schmalen Korridor. «Folgen Sie mir», sagt Frau Locher und schreitet mit einer beherrschenden Zügigkeit an mir vorbei. Bei der dritten Tür, auch auf der rechten Seite, bleiben wir stehen. Frau Locher öffnet sie und bedeutet mir einzutreten. Es ist ein charmanter Wintergarten. Im Kamin an der gegenüberliegenden Seite prasselt ein kleines Feuer und davor stehen zwei hübsch aussehende, gemütliche Ledersessel. «Bitte nehmen Sie Platz», mit einer einladenden Handbewegung deutet Frau Locher auf die Ledersessel. Ich setze mich und gerate in der Gegenwart des knisternden Feuers und dem angenehmen Duft der Kamelien in eine Art Trance. Wer hätte gedacht, dass man ausgerechnet an einer Börse eine solche Ruhe finden kann? «Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee? Tee?» Mich aufrichtend nehme ich das Angebot des Kaffees an. Frau Locher setzt sich gegenüber von mir und schaut mich fragend an: «Wie kann ich Ihnen behilflich sein, Herr Travel?»
«Nun», ich räuspere mich: «Ich bin hier, um mehr über diese technische Innovation, über welche in breiten Kreisen gesprochen wird, zu erfahren. Was ist es? Wie funktioniert es?» «Es freut mich zu hören, dass unser – wir nennen es so – Börsenfernsehen bereits nach kürzester Zeit in aller Munde ist und sich ein reges Interesse gebildet hat. Wie Ihnen bestimmt bekannt ist, ging die Telekurs AG heuer aus der im Jahr 1930 gegründeten Ticker AG hervor. Bereits damals leistete die Ticker AG wichtige Arbeit: Durch den Einsatz von Schreibtelegrafen, der die Börsenkurse in normaler Schrift sendete, konnte die Börsenkommunikation um ein Vielfaches erleichtert werden. Das bedeutete, die Informationen wurden in kursiver Schrift gesendet und nicht wie bei anderen Telegrafen in Form des Morsealphabets. Ein weiterer Vorzug des Börsentickers war die Versendung der gleichen Mitteilung an beliebig viele Empfänger. Trotz dieser Innovation war aber ein grosser Nachteil dieser Tickeranalage, dass der Kursverlauf eines bestimmten Titels nicht über längere Zeit verfolgt werden konnte und dadurch dessen Änderungen nicht transparent aufgezeigt werden konnten. Somit war es lediglich eine Frage der Zeit, bis die Kurse auf ein entsprechendes Medium übertragen wurden, damit die erzielten Kurse stets transparent und vergleichend aufgezeigt und abgelesen werden können. Das erst kürzlich lancierte Börsenfernsehen ist eine Weltneuheit auf dem Finanzmarkt. Ich bin mir sicher, bald folgen unserem Beispiel die Börsenmärkte New York, London und Frankfurt.»
Frau Lochers Augen funkeln. Sie greift nach ihrer Kaffeetasse, trinkt einen Schluck und stellt die Tasse achtsam auf den Salontisch zwischen uns zurück. «Wissen Sie, das Börsenfernsehen ermöglicht die Echtzeitübertragung der Börsenkurse, wodurch der Börsenhandel einem breiteren Publikum zugänglich gemacht werden kann. Obwohl die Anschaffung und der Einsatz von Fernsehkameras in unserer Einrichtung eine äusserst kostspielige Angelegenheit darstellt, sind wir zuversichtlich, den richtigen Schritt Richtung Zukunft getan zu haben: Durch den Einsatz von Fernsehkameras sind wir in der Lage, die Informationsfülle – also die auszutauschende Datenmenge – um ein Mehrfaches zu steigern. Ausserdem werden die Kommunikationsmöglichkeiten erweitert. Das Börsengeschehen wandelt sich dadurch von einem ortsgebundenen Treiben zu einem ortsunabhängigen Ablauf.»
«Das hört sich ja alles äusserst interessant an, aber ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, auf welche Art und Weise nun das Fernsehen hier in der Zürcher Börse eingesetzt wird?» Frau Locher lächelt mich an und erwidert: «Selbiges dachte ich, als dieses Technisierungsprojekt uns, der Geschäftsleitung, präsentiert wurde. Es ist ganz simpel.»
Sie erhebt sich aus dem Ledersessel. «Kommen Sie. Ich nehme Sie mit auf einen Rundgang.» Ich stelle meine leere Kaffeetasse auf den Salontisch und erhebe mich. Frau Locher steht bereits an der von ihr geöffneten Tür und bittet mich mit einer erneuten Handbewegung hinaus. Mir vorangehend, elegant und zügig, führt mich Frau Locher zurück in die Eingangshalle. Wir umrunden den Mahagoni-Tresen und steuern auf die sich links befindende Tür zu. Die Türklinke in der Hand und einem fragenden Blick im Gesicht schaut Frau Locher mich an und sagt: «Sind Sie bereit?» «Ja», antworte ich. Vor lauter Neugier halte ich kurz den Atem an. Die Tür öffnet sich und wir treten ein. «Das hier, Herr Travel, ist der Börsenring.» Wortwörtlich ein Ring, alleinstehend in seiner doch schlichten Art. In dessen Mitte, auf einem Hocker an einem kleinen Schreibtisch sitzend, ist ein Mitarbeiter der Börse platziert. In seiner rechten Hand hält er einen Telefonhörer, welcher er zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt hat. Er ist umringt von einem Dutzend Herren in schicken Anzügen, die ihm abwechselnd irgendwelche Abkürzungen und Zahlen zurufen. «Herr Säusel, hier in der Mitte des Börsenrings, nimmt von den umstehenden Herren die aktuellen Aktienkurse der ihnen zugeteilten Betriebe entgegen und leitet diese via Mikrophonanlage in unser Fernsehstudio weiter, wo Herr Krakel, unser bester Kursschreiber, diese entgegen nimmt und notiert.» «Also kommt hier noch kein Fernsehen zum Einsatz?», frage ich nach.
«Hier noch nicht», antwortet Frau Locher und bedeutet mir, ihr zu folgen. Wir machen einen Bogen um die Handelnden. Hie und da versuche ich, die Zurufe zu verstehen, doch ich höre nur mir unbekannte Ausdrücke gefolgt von Zahlen. Gleich rechts von uns, auf halber Strecke, befindet sich eine neue Tür. Wie üblich öffnet Frau Locher diese und lässt mich als Erster eintreten. Dieser Raum ist etwas kleiner als der Vorherige, jedoch um einiges heller und besser ausgeleuchtet. Hier arbeitet nur eine Person. Es herrscht eine ungewöhnliche Stille. «Wir befinden uns jetzt im Fernsehstudio», sagt Frau Locher. «Dies», führt sie strahlend fort, «ist das Herzstück des Börsenfernsehens und der ganze Stolz der Zürcher Börse – und natürlich auch der Telekurs AG, welche diese Anlage zur Verfügung stellt.» Ihre Leidenschaft und Euphorie ist förmlich greifbar. «Dies ist Herr Krakel. Er ist, wie ich ihnen bereits erzählt habe, mit Herrn Säusel via Mikrophonanlage verbunden. Mit seiner sorgfältigen aber ebenso zügigen Handschrift schreibt er auf diesem Papierbogen die jeweiligen Börsenkurse auf, die ihm von Herrn Säusel mitgeteilt werden. Die, wie Sie bereits wissen, von den Herren am Börsenring an Herrn Säusel zugerufen werden.» Ihr Blick gleitet nach oben und mit ausgestreckten Fingern deutet Frau Locher an die Decke. An der Decke, direkt über dem riesigen Arbeitstisch von Herrn Krakel, sind elf Kameras angebracht. «Jede der Kameras ist auf ein spezifisches Feld auf dem Papierbogen von Herrn Krakel gerichtet und nimmt dieses ununterbrochen auf. Das aufgenommene Bild wird in elektrische Signale umgewandelt und in die Zentrale nebenan weitergeleitet. Der Aufbau dieser Anlage ist so konzipiert, dass jederzeit weitere Kameras hinzugefügt werden können, ohne die ganze Apparatur auszutauschen.» Sie lächelt und schreitet am gigantischen Arbeitstisch von Herrn Krakel vorbei, hin zu einer der Eingangstür gegenüberliegenden Tür. «Kommen Sie, kommen Sie, Herr Travel, es geht weiter.»
Wieder öffnet Sie mir die Tür. Ein dröhnendes Summen schallt mir entgegen. Ich trete ein und ein Windstoss bläst mir um den Kopf. Frau Locher kommt nach. Im Gegensatz zu Ihrer Frisur, hält meine den Kampf gegen das Gebläse nicht an. Dieser Raum ist etwa von der gleichen Grösse wie das Fernsehstudio. An der Wand, zu meiner Linken, ist ein fünftüriger Schrank aufgestellt. «Hier in der Zentrale», beginnt sie und erhebt leicht ihre Stimme, damit ich sie durch den Lärm auch verstehen kann, «steht unser leistungsstarker und zuverlässiger Verteiler. Die elektrischen Signale der Fernsehkameras werden hier verstärkt, kontrolliert und auf zwei unterschiedlichen Ringleitungen geschaltet.» Da ich nicht das Talent von Frau Locher besitze, meine Stimme angebracht und leicht zu erheben, frage ich schreiend: «Und wieso ist es hier drin so laut und windig?» «Aufgrund der hohen Arbeitsintensität erhitzt sich der Verteiler schnell. Damit er nicht überhitzt und auch er seine Leistungsstärke beibehält, muss er ständig gekühlt werden. Daher die vielen Ventilatoren.» Ich nicke ihr mit offenem Mund zu. Nach wenigen Schritten ist der Raum durchquert und abermals öffnet mir Frau Locher die Tür. Wir betreten einen Saal, der etwa die gleiche Grösse hat wie die Eingangshalle. Der Saal ist ebenfalls ziemlich hoch gebaut und mit einem schönen Parkettboden ausgestattet – schlicht, aber zeitgenössisch modern. Im Saal steht ein halbes Dutzend Telefonkabinen – sie erinnern mich an diese roten in England – sowie ein halbes Dutzend grosser Tische, die feinsäuberlich im gleichen Abstand zueinander ausgerichtet sind. Hier arbeiten doppelt so viele Personen wie im Börsenring. Sie wirken ruhiger, aber genauso geschäftig. «Letzte Station unseres Rundgangs», sagt Frau Locher und führt mich durch den Saal. «Dies hier nenne ich ‘den Markt’, aber unter uns: Meine Kollegen mögen diese Bezeichnung nicht!» «Wie heisst-» «Die offizielle Bezeichnung hierfür», sie macht eine auslandende Handbewegung, «ist nicht relevant. Wichtiger ist dessen Funktion, nicht wahr?», sie zwinkert mir zu. «Naja, wie Sie meinen. So bitte erzählen Sie mir etwas über dessen Funktion?», sage ich zögernd. Wir bleiben vor einer Telefonkabine stehen. «In jeder Telefonkabine sowie auf jedem der Tische ist ein Monitor installiert. Die Monitore sind an die Ringleitungen, welche aus der Zentrale hervorgehen, mittels eines Steuergeräts angeschlossen. Die Monitore in den Telefonkabinen sind mit 8.5 Zoll etwas kleiner, als die 14-Zoll-Monitore auf den Tischen, beide haben jedoch denselben Verwendungszweck: Mit einer zugehörigen Handsteuerung können die Arbitragisten hier per Knopfdruck wählen, welches Feld des Kursschreibers Krakel angezeigt werden soll. Dadurch erhalten sie hohe Flexibilität in der Betrachtung der Kurse. Aber nicht nur dieser Saal ist mit der der Zentrale verbunden, nein. Sämtliche Banken in der Stadt Zürich sind mit der Zentrale verbunden, wodurch eine ortsunabhängige Echtzeit-Börsenteilnahme ermöglicht wird.» «Welche Aufgaben haben diese Arbitragisten hier?», frage ich. «Sie kaufen und verkaufen Aktien.» Wir stehen nun vor den Fenstern. Ich spüre die Dämmerung in meinem Nacken. «Wie könnte ich nun hier am Börsenmarkt teilnehmen?» «In dem Sie Ihrer Bank oder einem Arbitragisten den Auftrag erteilen eine bestimmte Aktie zu einem bestimmten Kurswert zu kaufen.» «Mhm …» «Nehmen wir an, Sie sind an Aktien von Nestlé interessiert. Sie geben Ihrer Bank oder einem Arbitragisten hier den Auftrag eine bestimmte Anzahl Nestlé-Aktien zu einem bestimmten Kurswert zu erwerben. Daraufhin kommuniziert Herr Krakel die tatsächlichen Kurswerte an den Arbitragisten. Der Arbitragist kann diese dann per TV konsultieren. Herr Krakel notiert die verhandelten Resultate anschliessend in die entsprechende Spalte für Nestlé-Aktien, die jeweils im vierten Feld auf dem Papierbogen zu finden sind. Da die Kameras den Papierbogen ständig aufnehmen, wird das Bildmaterial vom Verteiler via Ringleitung über die Steuergeräte an die Monitore weitergeleitet. Der Arbitragist prüft nun auf dem Monitor mit der Handsteuerung das vierte Feld, in welches Krakel hineingeschrieben hat. Entspricht der Kurs dem, den Sie gewillt sind zu bezahlen, löst der Arbitragist die Bestellung aus.» Mein Kopf brummt, aber, «ich verstehe.» Frau Locher deutet mir an, ihr zu folgen. Wir durchqueren den Saal. Sie öffnet die Tür. Ich gehe hindurch. Wieder stehen wir in einem langen und schmalen Korridor. Wir gehen hindurch. Am Ende angelangt, öffnet Frau Locher zum letzten Mal die Tür und hält sie für mich auf. «Es war mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Herr Travel. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Auf Wiedersehen.» Sie lächelt mich mit einem Funken in den Augen an. «Auf Wiedersehen Frau Locher. Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite.» Ich lächle zurück und gehe hinaus. Auf der Strasse angekommen, unterdrücke ich ein Gähnen, drehe mich einmal um die Achse – PLOP – und ich bin zurück in der Gegenwart.
Die Inspiration und Hintergrundinformation zur fiktiven Erzählung der Ereignisse an der Zürcher Börse wurden folgenden Quellen entnommen:
Burger, Alexandre: Das Fernsehen im Dienste der Wirtschaft. Orientierung der Schweizerischen Volksbank, 1958, S.1-7.
Borer, Willy: Die Fernseh-Kursübermittlungsanlage in der Effektenbörse Zürich. In: Neue Zürcher Zeitung. Mittwoch, 22. März 1961, Blatt 7.
Börsen-Informations AG (Hrsg.), Text von O. Gengenbach: Jubiläumsbroschüre. 25 Jahre Börsen-Informations AG (BIAG).
Hughes, Kit: Television at Work: Industrial Media and American Labor. Oxford, New York: Oxford University Press, 2020. 2. Kapitel.
Meyerhans, Elisabeth: Börsen. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.08.2004. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013741/2004-08-19/ (zuletzt eingesehen am 19.11.2020).
Reichert, Ramòn: Das Wissen der Börse. Medien und Praktiken des Finanzmarktes. Bielefeld: transcript Verlag, 2009, S.12-18.
«Potential Market Link». Vision, 1962.
75 Jahre Telekurs Group. Copyright Telekurs Holding AG, Zürich. 2005.
Archivmaterial: Beschwerde am Bundesgericht seitens Börsen-Information AG Basel, gegen neue Regalgebüren, T-00 C_1185_03 Betriebliches und industrielles Fernsehen, Börsenfernsehen, Fernsehen für Postbetrieb, 1974 (Dossier), PTT Archiv.